Nach dem Digitaldesaster der Corona-Behörden, nach dem Russland-Desaster der deutschen Energie- und Außenpolitik, ist jetzt vielleicht der Punkt erreicht, wo wir feststellen, dass wir auch im Verkehr zu lange auf ein Pferd und „weiter so“ gesetzt haben. Jedenfalls kann man in den letzten Tagen und Wochen den Eindruck gewinnen, wenn man die Berichte von Bahnreisenden liest.
Allerdings, das Anekdotische nervt mich mittlerweile: mit Sicherheit hat jede/r, die/der einmal in seinem/ihrem Leben mit der Bahn unterwegs war, irgendein mehr oder weniger dramatisches Ereignis beizutragen: vom lustigen schlechten Englisch (immer seltener) bis hin zu wahrlich unterträglichen Verspätungen (immer häufiger).
Im Blog meines Chefs las ich u.a. folgenden Kommentar:
Als die Bahn noch nicht privatisiert war, waren die Schaffner nicht sehr freundlich, aber die Bahn war pünktlich! Jetzt sind die Schaffner freundlich, aber die Bahn unpünktlich!
Frederico Peetsch, https://www.czyslansky.net/bahnbetrug-mit-der-deutschen-bahn-auf-dem-stehplatz-von-koeln-nach-muenchen/#more-16430
Der Kommentar folgte auf die ausführliche Schilderung, wie eine Zugfahrt von München nach Köln auf viereinhalb Stunden Verspätung kommt und trotz reserviertem 1.-Klasse-Sitzplatz stehend im Gang stattfindet. Für die direkt Betroffenen ein unhaltbarer Zustand – für alle weiteren einfach noch eine weitere Geschichte in der Sammlung der unglaublichen Bahnanekdoten.
Es ist ein Trauerspiel: Jetzt wirkt langsam der dezente Aufruf zur Eigenverantwortlichkeit, und die Menschen versuchen sich auf längeren Bahnfahrten, auch dienstlich, statt auf das Flugzeug und das Auto zu setzen, und dann versagt die Bahn total. Gibt es noch schlechtere Werbung? Gibt es nicht. Wird sich kurzfristig etwas ändern, in dem man die Bahn mit Geschichten, Tweets, Followern und Likes, ggf. sogar Prozessen in die Zange nimmt? Vermutlich nicht, wenn man sich folgenden Bericht über ein Video durchliest, mit dem sich der Vorstand von DB Cargo an seine Mitarbeiter wendet – dieser bezieht sich natürlich auf DB Cargo, aber ich habe keinen Anlass, daran zu zweifeln, dass das für den Personenverkehr auch gilt, schließlich verwenden Cargo- und Personenverkehr die gleichen Schienen.
Doch Pünktlichkeit auf der Schiene ist in diesen Tagen fast unmöglich. „Wir sind in einer Situation, die ist fast schon unbeschreiblich“, sagt Kloß. Das habe er in seinen 40 Jahren bei DB Cargo „noch nicht erlebt“. Das Unternehmen sei betroffen von Baumaßnahmen, von Störungsgeschehen, „das wir kaum noch beherrschen können“. Kloß bedankt sich in dem mehr als drei Minuten langen Video bei seiner Belegschaft. Die Mitarbeiter würden sich mit großem Einsatz „gegen das drohende Chaos“, „gegen den kompletten GAU auf dem Produktionssystem stemmen“, sagt Kloß.
https://www.wiwo.de/unternehmen/dienstleister/frust-video-an-mitarbeiter-dieser-bahnvorstand-spricht-aus-was-viele-deutsche-denken/28361550.html
Das klingt, auch wenn man es nicht übertreiben will, nach erst kaputt gespart und jetzt wird verzweifelt hinterher repariert. Statt die Bahn als wirkliche Alternative zu Auto und Flugzeug auszubauen, hat die Politik presstigeträchtige, aber finanziell desaströse, Regionalflughäfen gesponsert und Millarden in Autobahn und Ortsumfahrungen gesteckt. Jetzt, wo man merkt, dass Fliegen wegen Klima nicht mehr geht und Autofahren auch nicht, wegen zu vieler Autos, die noch dazu zuviel Dreck ausstoßen, ist guter Rat teuer.
Wenn Wikipedia stimmt, hätte man für drei Milliarden Euro wohl um die 100 ICEs kaufen können – statt dessen: Tankrabatt, also „weiter so“. Aber: es ist, wie es ist und es wird sich so schnell wohl auch nichts ändern, neue Schienen und neue Züge bekommt man nicht von heute auf morgen geliefert und neue Strecken lassen sich schon gar nicht schnell bauen.
Statt dessen muss sich der engagierte Bahnfahrer „eigentverantwortlich“ kümmern: das dachte ich mir, als ich eines Donnerstagabends am Bahnhof in Bochum stand, auf dem Weg zum Flughafen Düsseldorf (ruhig bleiben, lieber geneigter öko-bewegter Leser, die Hinfahrt fand am Vortag statt mit dem Zug, mit knapp 7 Minuten Verspätung von München aus). Während wir so auf die Fahrt zum Flughafen warteten, hielt plötzlich der ICE nach München vor uns. Wie gerne wäre ich eingestiegen und hätte mich gleich auf den Heimweg gemacht.
Stattdessen hatte ich noch 4 Stunden bis zum Abheben vor mir: genug Zeit für die lange Anreise zum Flughafen, die Suche am Flughafen nach einem Klarsichttäschchen für das Duschbad, die entwürdigende Sicherheitskontrolle, das überteuerte (aber immerhin leckere) Abendessen am Gate, die nervige Rumsteherei vor dem Einsteigen. Wenigstens war der Flieger nicht übervoll und ich hatte für sechs Euro zusätzliche Beinfreiheit am Gang gebucht. Obwohl wir mit fast 30 Minuten Verspätung eingestiegen sind, landete der Flieger auf die Minute pünktlich in Salzburg.
Trotzdem wäre ich gerne wieder Zug gefähren (warum habe ich hier an anderer Stelle beschrieben), denn die fünf Stunden, inkl. Flug, hätte ich produktiver verbringen können.
Meine Überlegung während ich so den ICE nach München vor mir anfahren sah: so teuer war das Hotel in Bochum nicht und ich hätte am Nachmittag noch arbeiten können (wofür schleppt man sein Büro mit rum) und am nächsten Morgen mit dem Zug nach München starten können – nicht Nachmittag, denn das wäre ja Freitagnachmittag. Und, wie wir jetzt wissen, sollte man Stoßzeiten nicht nur im Autoverkehr meiden. Man kann natürlich jetzt darauf beharren, am Freitagnachmittag unbedingt mit dem Zug nach Hause fahren zu wollen – das ist aber wie am ersten Ferientag mit dem Auto auf der A8 Richtung Süden zu fahren: einfach keine gute Idee.
Dein Beitrag ist ebenso wichtig wie deprimierend und „zeitgeschichtlich relevant“. Heb ich mir auf, in der Hoffnung, dass wir diesbezüglich noch/wieder bessere Zeiten erleben werden. Danke!
Hallo Jacqueline, danke für deinen Kommentar. Schau mer mal, obs besser wird mit der Bahn. Aufgrund der vielen notwendigen Baustellen wird es vermutlich eher erstmal noch schlechter als besser. Ich bleibe trotzdem beim Bahn fahren, mit den entsprechenden „Vorsichtsmaßnahmen“: Stoßzeiten vermeiden; bei wichtigen Terminen nicht nur einen Zug früher nehmen, sondern vielleicht zwei oder drei; und genügend Puffer für wichtige Umstiege einplanen. Gute Reise trotzdem. Schöne Grüße Markus