Wenn man aus Bayern kommt und im Wattenmeer der Nordsee steht, fragt man sich schon, mit was das vergleichbar ist: Berge, Gletscher, Lawine…? So richtig passender Vergleich ist uns keiner eingefallen. Nur so viel: wer im Wattenmeer nicht aufpasst und sich nicht an die Regeln hält, ist genauso verloren, wie jemand, der unvorsichtig, nicht richtig ausgerüstet und unerfahren eine anspruchsvolle Bergtour unternimmt. Die Einheimischen sind hier, wie überall in der Natur, im Vorteil, weil sie die Bedingungen kennen. Für Touristen sind die Gezeiten ein faszinierendes Schauspiel und das Wattenmeer ein einzigartiges Ökosystem, das man genauer unter die Lupe nehmen sollte – mit einem Wattführer natürlich. Auch wir profitierten von seiner Ortskenntnis und Erfahrung, nicht nur seinem Wissen.
Wattführer gibt es praktisch auch wie Sand im Wattenmeer; einige vermarkten sich gut, auch via Internet; Handzettel gibts im Touristenamt. Wir haben uns für eine Tour entschieden, organisiert vom Nationalpark. So hatten wir nicht die Qual der Wahl und das Nationalparkhaus auf der Insel Baltrum, genannt „Gezeitenhaus“, unserem Urlaubsstandort, empfiehlt sich immer schon durch seine engagierte Leitung, spannende Führungen und abwechslungsreiche Ausstellungen. Wenn Wanderung, dann schon von A nach B und nicht im Kreis, also wollten wir vom Festland zurück auf die Insel; das erschien uns praktisch, weil wir dann quasi zum Abschluss der Wanderung „zu Hause“ sind.
Wattenmeer: es gilt der Fahrplan der Gezeiten
Nun ist das mit den Gezeiten so eine Sache, eigentlich nicht kompliziert, ändern sich aber jeden Tag; der Gezeitenkalender, einschließlich Badezeiten, wird zur täglichen Anlaufstelle am Smartphone. Entsprechend ändern sich auch die Abfahrts- und Ankunftszeiten der Schiffe für die Überfahrt täglich. In unserem Fall mussten wir das Schiff um sieben aufs Festland nehmen, damit wir um elf an der Wanderung vom Festlandshafen in Neßmersiel zurück nach Baltrum teilnehmen konnten.
Schlimm war nicht nur das für Strandurlaubsverhältnisse frühe Aufstehen; für Abwechslung sorgt wenigstens die Überfahrt mit dem Schiff. Schlimm war bei der Ankunft am Hafen in Neßmersiel das schlechte Wetter und das geschlossene Restaurant über dem Strandbad. Dafür entsprach der Warteraum allen Vorurteilen: grelle Neonröhren beleuchteten lieblose Resopaltische und Plastikstühle; geheizt wurde durch zwei Automaten, einer für Getränke und Suppen der andere für die üblichen Süßigkeiten. Dass ein Zeitungskiosk fehlte, wurde durch schnelles WLAN wettgemacht. So ließen sich die dreieinhalb Stunden Wartezeit leichter überbrücken, zumal bei dem Nieselregen vor der Türe.
Der Regen wurde allerdings von Stunde zu Stunde schwächer und die Wolkendecke verlor ihr grau etwas und lichtete sich, Belohnung fürs Warten. Ab halb elf sammelten sich immer mehr Leute im Warteraum. Man begutachtete gegenseitig die Ausrüstung: Ölzeug, Outdoorjacke, Gore-Tex-Umhang, Turnschuhe, Strandschlappen, Badeschuhe.
Wir vertrauten auf den Rat unseres Wattführers, der uns persönlich am Tag nach der Buchung nochmal angerufen hatte:
windig und Wassertiefen bis 50 Zentimeter, die zu durchqueren wären, kündigte er an. Zudem empfahl er ohne Schuhe, aber dringend nicht Barfuß zu gehen, sondern einfach zwei paar Socken zu tragen. Schuhe können im Schlick stecken bleiben und die Socken braucht man, um sich vor scharfen Muscheln, vor allem Austern zu schützen.
Um elf Uhr startete dann eine knapp 30-köpfige Gruppe und betrat neben dem kleinen Hafen, den Grund des Wattenmeeres. Vorher gab es noch ein paar kurze Hinweise zum Verhalten im Watt; in Kürze: einfach auf den Führer hören und wenn es um die Füße nass wird dem Führer im Gänsemarsch hinterher.
Dann standen wir auf einer Sand- und Schlickfläche, die sich scheinbar endlos dahinzieht. Gut vier Kilometer liegen Luftlinie zwischen Baltrum und Neßmersiel; 6,5 Kilometer Fußmarsch durchs Watt. Nachdem der Hafen immer kleiner wurde, fiel es manchmal tatsächlich schwer, noch auszumachen, wo wir gestartet waren und welche Richtung wir einschlagen sollten. Das Wetter besserte sich. Die weißen Schiffe der Baltrum Linie, die bei Ebbe in den Häfen von Neßmersiel und Baltrum lagen, leuchteten und zeigten uns die grobe Richtung an. Immer voraus, die Grabgabel in der Hand, unser Wattführer Uilke van der Meer (der Leiter des Nationalparkhauses in Dornum).
Zügigen Schrittes ging es zunächst über glitschig-seifigen Untergrund, später sank man über die Knöchel ein, durchquerte ein Priel, einen Ab- bzw. Zulauf, der den Sand und Schlick wieder von den Füßen spülte; dann kamen Passagen, die den Gang erleichterten, etwa harter sandiger Untergrund.
Wattführung: viel gehen, wenig Theorie
Getrieben durch die unaufhaltsam wieder kommende Flut legte der Wattführer ein ziemliches Tempo vor. Dennoch gab es ein paar Erläuterungen: zu den wieder angesiedelten Wildgänsen, die am Horizont in Scharen saßen; zu dem Vogelschlag durch Windräder (viel, aber wenig verglichen mit Fensterscheiben, Zug, Flugzeug und Auto), der Anpassung (oder nicht) von bestimmten Vogelarten an Windparks; den Algen, die Sauerstoff ausstoßen und den Nationalpark Wattenmeer etwa so wertvoll wie den Regenwald machen; zu Vögeln, von denen ein einziger pro Tag 300 (!!!) Muscheln knackt und isst; zu den von Frachtschiffen eingeschleppten japanischen Austern, riesige Exemplare mit messerscharfen, harten Kanten (Danke für den Tipp mit den Socken); zu unerwarteten Löchern in Prielen, wo sich illegalerweise Boote haben trocken fallen lassen.
Beeindruckend, diese Vielfalt in dem, was auf den ersten Blick wie ein verlängerter Strand aussieht. Unvorstellbar, wenn man sich vorstellt, dass das Wasser an der Stelle, wo man steht, bei normaler Flut ungefähr zweieinhalb Meter hoch steht. Kein Wunder, dass der von Mond und Sonne gesteuerte Zu- und Ablauf der riesigen Wassermassen ungeheure Kräfte freisetzt. Adria und Mittelmeerurlauber sollten sich nicht täuschen lassen; ein Durchschwimmen von der Insel Baltrum auf das Nachbareiland Norderney, das zum Greifen nahe liegt, ist quasi unmöglich, da einen der Sog der Gezeiten mit sich reißen würde.
Daneben treibt der Wind auch noch sein Spiel mit den Wassermassen der Nordsee. In unserem Fall sorgte er dafür, dass das Wassern aus dem Watt nicht komplett ablief, sondern einige Priele noch voll Wasser standen. Zielsicher stakste unser Wattführer hinein in die Fluten – erstmal abwarten bis er uns ein Zeichen gibt, dann startete die Gruppe, wie eingangs empfohlen, im Gänsemarsch hinterher. Mich erreichte bei den tiefsten Prielen das Wasser bis an die Hüfte – Smartphone und Geldbeutel waren zum Glück schon in die oberen Taschen der Softshell-Jacke gewandert. Die Fototasche hatte ich ängstlich unter die Achsel geklemmt, während ich einen Sturz fürchtend durch das circa 20 Grad kalte Wasser watete. Die ganz Schlauen trugen unter ihren Klamotten Badehosen; ich selbst war froh über meine Funktionsunterwäsche, die nach kurzer Zeit wieder wärmte und schnell trocknete. Im stetigen Wind und unter immer blauerem Himmel trocknete aber auch meine kurze Hose schnell wieder.
Als wir nach rund drei Stunden in Baltrum wieder das Festland betraten, lachte nicht nur die Sonne, ich war auch komplett trocken. Die Socken allerdings habe ich direkt dem Mülleimer übergeben.
Ausrüstung und Tipps für die Wattwanderung
Kurzum: Die geführte Wattwanderung ist ein Ausflug, der sich unbedingt lohnt, gut zu Fuß sollte man aber schon sein (Übrigens gibt es auch „ruhige und gemütliche“ Wattwanderungen auf „Strecken, die bequem zu begehen“ sind). Es gibt naturgemäß keine Möglichkeit, sich hinzusetzen und auch keine Büsche hinter denen man für ein „Geschäft“ verschwinden kann.
Die vom Nationalpark organisierte Wanderung war kostenlos, allerdings wird, zurecht, eine Spende am Schluss erwartet. Die Einzelfahrkarte für die Überfahrt von Baltrum nach Neßmersiel kostet 15,50 Euro.
Ein bisschen Verpflegung im Rucksack mitzunehmen, Kekse, Schokolade und etwas Getränke, schadet auf gar keinen Fall. An Wertsachen sollte man nur das unbedingt notwendige mitnehmen; Geldbeutel und empfindliche Kleingeräte wie Smartphone sollte man in oberen Taschen verstauen, am besten Wasserdicht; ein Sturz ist nicht auszuschließen. Deshalb empfiehlt sich auch der Tipp mit den Socken statt Schuhwerk und freie Hände helfen auch in rutschigen Situationen das Gleichgewicht zu halten.
Für den Fotoapparat hatte ich für den schlimmsten Fall eine wasserdichte Verpackung dabei, die ich nicht benötigte; natürlich ist so ein Ausflug mit einer Kameraausrüstung ein gewisses Risiko.
Welch ausdrucksstarke Photos. Ich bin echt beeindruckt!
Das Watt bietet zusätzlich noch ein Naturschauspiel vom Feinsten.
Hallo Suse,
freut mich sehr, dass dir die Bilder gefallen. Der Urlaub war aber auch erholsam. Erstaunlich, wie schnell die Zeit auf einer Insel nur mit Strand, Meer und Wetter vergeht. Was bleibt sind die Fotos als Erinnerung und Motivation für andere und mich.